Bei Traumen der Halswirbelsäule (HWS) kann es in Abhängigkeit von Lokalisation und Art der Krafteinwirkung selten auch zu einer Verletzung von Rückenmark und Spinalnerven kommen. Zwischen der Schwere der neurologischen Ausfälle und dem Ausmaß der knöchernen Wirbelsäuleverletzungen besteht keine gesetzmäßige Beziehung. Dies bedeutet, dass ein Hund schwere und schwerste neurologische Ausfälle zeigt, eine Tetraparese, praktisch unmöglich zu laufen, obwohl Röntgen, CT und MRI keine bilddiagnostischen Veränderungen zeigt. Vor einigen Tagen wurde ich wegen einem Diensthund diesbezüglich angesprochen, der die aufgezeigte Situation aufweist.
Schwerwiegende knöcherne HWS-Verletzungen können ohne Rückenmark- oder Nervenwurzelschädigungen vorkommen, anderseits sind spinale Läsionen bis hin zur Querschnittsyndrom ohne röntgenologische (inkl. CT und MRI) fassbare Wirbelsäulenfrakturen möglich. Es ist aber deutlich zu erwähnen, dass degenerative HWS-Veränderungen bei den Facettengelenken oder Spondylosen ein erhöhtes Risiko für die begleitenden Auswirkungen auf Spinalnerven und Rückenmark darstellen.
Auch bei unserem Patienten war dies der Fall:
Der vorgestellte Patient wurde im April 2016 vorgestellt, 10 Jahre alt, akuter Verlauf der Symptome mit Muskelrückbildung in beiden Schultern, Schmerzäusserungen, komische Bewegung mit Kopftiefhaltung, zeigt Ataxie mit Dysmetrie der Vorderläufe, keine bilddiagnostischen Befunde in Röntgen und CT, die die klinischen Symptome erklären würden. Einzig der Liquor war sehr blutig, keinen Hinweis auf Infektion. Der Patient ist therapeutisch auf Kortison, zeigt aber keine Verbesserung der Symptome. Die Besitzerin stellt den Patienten bei mir vor, um ihn allenfalls anschließend zu euthanasieren, wenn sich die klinischen Symptome nicht verbessern. Der erste Teil des Videos zeigt wie der Patient gelaufen ist bei der Erstuntersuchung (April 2016), anschließend einen Monat danach (Mai 2016). Die Verbesserungen in der Bewegung sind offensichtlich. Der Patient zeigte keine Schmerzen mehr und war wieder praktisch agil. Im Sommer 2017 wurde der Patient vorgestellt zur Kontrolle. Wie es sich zeigt, geht es dem Patienten sehr gut.
Bei den HWS-Traumen unterscheidet man zwei Formen:
Beim direkten HWS Trauma kommt es zu einer Gewalteinwirkung auf Hals- und Nackenregion, wobei dies beim indirekten Trauma nicht gegeben ist (non-contact-injury). Zur Veranschaulichung: die direkten Trauma der HWS sind im Sport sehr oft. Als Beispiel beim Pneu/ Reifen im Agility oder dann auch beim Schutzdienst, wenn der Pikeur den Sprung auf den Ärmel des Hundes zu wenig schnell abnehmen kann. Die indirekten Trauma auf die HWS sind vor allem die Folge von rüpelhaftem Spiel, wenn der eine Hund den anderen vor allem im Bereich der Brustwirbelsäule prellt und „checkt“. Dies verläuft rein physikalisch als „coup – contrecoup“ Reaktion, also als reinen Kraftvektor der weitergeleitet wird. Die aufgezeigten Situationen sind aus dem täglich Leben. Beim Schutzdienst kann dies passieren, wenn der Hund ein hohe Trieblage hat und vor allem mit hoher Geschwindigkeit kommt. Dies ist mit einem Projektil vergleichbar und nicht immer einfach zu vermeiden.
Bei den indirekten HWS-Trauma sprechen wir von einer Distorsion oder auch Stauchung. Es sind sogenannte Beschleunigungstrauma, die durch eine heftige Relativbewegung zwischen Kopf und Rumpf zu Stande kommen. Diese indirekten HWS-Trauma gehen meistens ohne Rückenmarkverletzungen einher. Das bedeutet, dass die Stauchungen mit allen klinischen Symptomen ausheilen können.
Bei den Verletzungsmechanismen unterscheiden wir zwei Typen:
Im Folgenden befassen wir uns nur mit den stumpfen Traumen.
Wie wir nun oben gesehen haben, ist das stumpfe HWS-Trauma ein indirektes Trauma, vergleichbar mit dem Schleudertrauma des Menschen.
Hier kommen nun die Retroflexions- sowie die Anteflexionstrauma und kombinierte Beschleunigungsverletzungen der HWS zum Tragen. Dies bedeutet beim Hund die Auf- und Abwärts- sowie die seitlichen Beschleunigungsbewegungen der HWS. Zur Versinnbildlichung nehmen Sie den „Prellball“ beim Boxtraining, der auf alle Seiten ausweichen kann. Beim Hund ist vor allem der Bereich C5 – T2 oft betroffen, da diese sekundäre Zervikalkurve (Halsbiegung) eine physiologische (normale) Engstelle darstellt, und dadurch der Hund meistens an allen vier Gliedmaßen (Tetraparese) zeigt mit wackeligem Gang (Ataxie) oder dann laufen auf einer Linie, indem die Vorderläufe einander fast behindern. Man nennt dies Dysmetrie. Zusätzlich kann Zittern der Vorderläufe auftreten.
Die Mehrheit der verletzten Strukturen bei HWS-Trauma sind der Muskel- und Bandapparat der Halswirbelsäule und vor allem mechanische Probleme der ganzen Wirbelsäule mit den Facettengelenken (Wirbelgelenke). Gerade diese Wirbelgelenke nehmen eine Schlüsselposition bei den ganzen Erkrankungen der HWS bezüglich Mechanik und Schmerz ein. Dies deshalb, da diese Gelenke sehr viele freie Nervenendigungen enthalten, die für die Schmerzperzeption (Schmerzempfindung) sowie für die mechanische Beweglichkeit zuständig sind. Sekundäre Veränderungen sind dann vor allem Ödeme (Schwellungen) Zirkulationsstörungen und spätere folgende Blutungen. Diese Blutungen können sogar im Spinalkanal vorkommen. Später einsetzende weitere Symptome sind vermehrtes Belecken und Benagen der Gliedmaßen und Pfoten. Das Benagen/Belecken der Gliedmaße kann auf jeder beliebigen Höhe der Gliedmaße (ober- oder unterhalb Ellenbogen, auf dem Vorderfusswurzelgelenk (Carpus) oder dann sogar die Zehen betreffen. Dieses Benagen oder Belecken wird ausgelöst durch einen gereizten Nerv/en oder eine Zirkulations- und Durchblutungsstörung. Der Allgemeinpraktiker ist geneigt in diesem Fall von einem „Tick“ oder ein „Saumödeli“ zu sprechen. Leider wiesen diese Probleme sehr viele Hunde auf und der Hintergrund dieses Verhaltens wird allzu oft missverstanden. Dies fühlt sich wie ein „Ameisenlaufen“ oder „Chrüsele“ oder eben wie ein „eingeschlafener“ Arm an. Diese Symptome gehören zu den neuropathischen Schmerzsyndromen.
Wie oben bereits erwähnt sind dies meist reine Weichteilschäden (Muskel, Bänder, Nerven sowie Gefäße) und betreffen besonders den ligamentären Halteapparat und führen somit zu einem posttraumatischen Zervikalsyndrom. Wir unterscheiden vier verschiedene Schweregrade, wobei Grad IV immer tödlich verläuft. In der Praxis treffen wir aber meistens Grad 1 und 2 an.
Die klinischen Symptome kommen meist verzögert, es ist ein „Kommen und Gehen“ der Symptomatologie. Dazu gehören, steifer Nacken, steifer Gang, Unbeweglicher Kopf, vereinzelt aufjaulen, hält den Kopf schräg. So schnell wie die Symptome kommen, können sie wieder gehen. Diese Intervalle können sich beliebig wiederholen, bis sie nach ca. 1 Monat spontan ausheilen können. Vereinzelt zeigt der Hund eine nicht eindeutige Schulterlahmheit. Schwindel mit einem taumelden Gang ist möglich, oder dann ein „depressives“ eher stilles Verhalten. Neurologisch kann man keine Ausfälle festhalten. Die Hyperextension sowie die Hyperflexion sowie die seitliche Biegung des Kopfes zeigt Einschränkungen und entlang der Muskulatur sind deutliche Myogelosen (harte und schmerzhafte Muskelbäuche) tastbar. Radiologisch keine Auffälligkeiten. Die Therapie wäre Schmerzmittel für 10 Tage. Oft melden sich Patientenbesitzer an und anlässlich des Termins ist der Spuk vorbei. Es ist aber sinnvoll, die mechanisch blockierten Facettengelenke zu mobilisieren, da eine Rückfalltendenz besteht. Es sind einfache Probleme, die sehr dankbar zu behandeln sind und auch komplikationslos ausheilen.
Beim Schweregrad 2 der Distorsion kommen die Nackenschmerzen sehr schnell nach dem Vorfall und auch in einer stärkeren Intensität. Dies quittiert der Hund mit mehr und vor allem deutlicheren Schmerzäusserungen. Zusätzlich treten Schluckbeschwerden auf. Die Nackenschmerzen sind nun sehr stark, dass es zu Ausstrahlungen in die Gliedmaßen kommt mit zervikobrachialen Parästhesien. Die typischen Symptome sind dann wie oben bereits beschrieben das Belecken und Benagen der Gliedmaßen und Pfoten. Dies kann einseitig oder beidseitig der Fall sein. Die Schmerzen wandern auch Kopfwärts, was zur Symptomatologie von Spannungskopfschmerzen bis zu Migräne-artigen Attacken führen kann. Der Hund beginnt sich am Kopf, hinter den Ohren zu kratzen, zeigt vermehrten Speichelfluss, die Pupillen sind unterschiedlich groß, oder der Hund kratzt sich öfters über den Nasenrücken. Je länger diese Symptomatologie anhält desto ruhiger und anteilnahmsloser er wird. Ohne Therapie erfolgt keine Heilung, und es manifestiert sich eine Chronifizierung der Symptome mit eine Allodynie, und je nach Schweregrad ein Quadranten-Syndrom. Dies bedeutet, dass ein Reiz, der nicht schmerzhaft ist, als sehr schmerzhaft empfunden wird. Die Folge der betroffenen Hunde, sie sind apathisch und wirken sehr faul. Die Folge der ganzen Pathogenese, es wird eine ursächliche falsche Schilddrüsenunterfunktion diagnostiziert und trotz der eingeleiteten Substitution mit Schilddrüsenhormon verbessert sich der Zustand nicht. Dies ist deshalb der Fall, da die vorhandene Unterfunktion eine Regulation des Körpers auf den Schmerz ist. Bleibt dieser bestehen, kann eine Substitution mit Schilddrüsenhormon den Schmerzprozess nicht stoppen, also wird der Hund auch nicht aktiver.
Ein weiteres Symptom, das wir bis jetzt noch nicht erwähnt haben, ist die Angst. Gerade Patienten mit Distorsion der HWS Grad 2 sind, oder besser gesagt können zu Angstpatienten werden. Dies vor allem deshalb, weil die Symptomatologie und die Schmerzen schon lange anhalten, und die Schmerzepisoden wie aus heiterem Himmel einschlagen, wie ein Stromschlag, vergleichbar wie beim Hexenschuss. Dies je nach Bewegung, oder auch Kontraktur der Muskulatur. Dies führt zu einem gestörten Allgemeinbefinden sowie zu Angst- und Meideverhalten. Jedermann, der schon selber Schmerzen in der Halswirbelsäule hatte, oder Nackenbeschwerden, weiss, wie sich dies anfühlt. Mit einem grossen Unterschied, Sie wissen, warum es schmerzt. Der Hund weiss dies nicht und kann allenfalls eine falsche Verknüpfung machen.
Radiologisch gibt es wenig Auffälligkeiten, eventuell ist ein kyphotischer Knick (Biegung der Wirbelkörper nach oben) in der Wirbelsäule zu sehen. Neurologisch sind ebenfalls keine Ausfälle vorhanden, ausser eine sehr schmerzhafte und wenig bewegliche Wirbelsäule mit hochgradiger Einschränkung in der Auf- Ab- und Seitwärtsbewegung.
Die Therapie sieht vor, die betroffenen Zervikalsegmente zu lokalisieren und die Beweglichkeit wieder herzustellen. Durch die Mobilisierung feuern die freien Nervenendigungen in den Facettengelenken weniger, somit weniger Schmerzen und die Beweglichkeit kann wieder hergestellt werden, da auch die Nozizeptoren zur Ruhe kommen. Halswirbelsäulen mit Kyphosen in den Segmenten müssen korrigiert werden, dass wiederum die HWS voll mobil ist und eine anatomische Form aufweist.
Bei unserem Patienten hatten wir eine Distorsion der HWS Grad 2 bis Anfang Grad 3 mit neurologischen Ausfällen. Den Grad 3 haben wir absichtlich nicht beschrieben. Er ist vergleichbar mit Grad 2, es kommen aber zusätzliche Symptome hinzu vor allem die neurologischen Ausfälle. Somit sind diese Fälle noch deutlich schwieriger zu lösen. Durch die orthopädische kinematisch kontrollierte manuelle Therapie (ORkkmT) konnte dem Patienten schnell geholfen werden. Die Entzündung, die mechanische Beweglichkeit und dadurch die Schmerzen konnten so behandelt werden und die Heilung konnte beginnen. In den drei Videosequenzen sehen Sie den Verlauf sowie die zeitliche Achse. Je nach Schweregrad der Verletzung dauert die Heilung ein paar Wochen bis zu 3 – 6 Monate.